Mathilde

In Schneewintern ist sie Schlittenbuckel für die Kinder,

im Rest des Jahres Verweilort für einen kurzen Stadtspaziergang.

Man trifft sich dort zum Dating – und später um zu heiraten.

Sie ist Touristenhotspot und Heimat eingefleischter Boulespieler.

Seit einigen Jahren ist sie Weltkulturerbe und seit zig Jahren einer meiner Lieblingsorte in Darmstadt.

Mathilde erhebt sich über der Nordstadt schon so hoch, dass sie bei gutem Wetter einen Blick in die Rheinebene im Westen gewährt.

An ihrer höchsten Stelle trägt sie einen Hut, der als Ausstellungsgebäude dient. Früher konnte man dort Ansammlungen von Jugendstilstücken in jeder Varianz bewundern. Nach jahrelangem Umbau ist es nun wieder das, was es auch zu Beginn im Jahr 1901 war – Ausstellungsgebäude für eine Schau der (klassischen) Moderne.

Neben dem Ausstellungsgebäude befindet sich der Hochzeitsturm – als Kind für mich ‚De Fünf-Finge-Durm‘,

weil die Dachbögen an die Finger einer Hand erinnern.

Hier heiraten die Darmstädter gerne.

Nun ja – der Turm war ein Geschenk der Darmstädter Bürger zur Hochzeit des letzten Großherzogs, des Initiators und Mäzens des Künstlerkolonie.

Denn in ihrem Vorleben war Mathilde der großherzogliche Garten gewesen, der direkt hinter der Stadtmauer und Gefängnis begann und sich den Hügel hinaufzog.

Diese Künstlerkolonie – bestehend aus dem Austellungsgebäude, einem Atelierhaus – heute Ernst-Ludwig-Haus

– und etlichen Musterhäusern – sollte damals eine große Rundumschau moderner Architektur und Innenarchitektur bieten. Die berufene Künstlergruppe – z.B. Behrens, Olbrich u.a. – sollten moderne Lösungen für zeitgemäßes Wohnen entwickeln und in der Künsterkolonie präsentieren.

Dazu gehörten nicht nur die prächtigen Häuser Deiters

und Behrens

sowie die Glückerthäuser, sondern auch Arbeiterhäuser, die heute in der Erbacher Straße gegenüber dem Hofgut stehen. Mögliche Auftraggeber konnten – wie schon auf den großen Weltausstellungen in Paris oder London – Arbeiten und Ideen in Augenschein nehmen und in Auftrag geben.

Heute würde man sagen, dass dieses Projekt eine „Investition in die Zukunft“ war, denn sie sollte sowohl Modelle für die Zukunft entwickeln als auch den Wirtschaftsstandort Darmstadt noch weiter beleben.

So entstand nach und nach zu Beginn des 20. Jahrhunderts das gesamte Ensemble, das heute Mathilde trägt und nicht zuletzt die russische Kapelle,

die vor den dezenten Jugenstilfassaden wie eine zu groß ausgefallener Klunker sitzt.

Mit Beginn des 1. Weltkrieges wurde die letzte Ausstellung auf der Mathilde abgebrochen. Danach war es vorbei mit Moderne und innovativen Ideen. Der Pokal ging weiter nach Weimar und später Dessau.

Dennoch – Mathilde bleibt. Sie überstand zwei Weltkriege. Inzwischen ist sie wieder aufgehübscht. In den Musterhäusern residieren Institute. Atelier- und Ausstellungsgebäude erweitern die Möglichkeiten, Kultur zu sehen und zu erleben. Sie ist Treffpunkt und Erholungsort geworden – und überrascht noch immer.

Schon Wochen her…

ist der Spaziergang am Nordoststrand – Anfang Oktober.

Es war noch nicht kalt – aber auch nicht mehr richtig warm, denn die ersten Herbststürme waren über den Felsen gefegt.

Die Ebbe hat das Felswatt freigelegt.

Der Spülsaum liegt weit am Strand weit oben, markiert durch einen Wall von losgerissenen Laminaria. Gekocht sollen sie halbwegs genießber sein und den Insulanern in sehr mageren Zeiten über den Winter geholfen haben.

Mich beeindrucken immer wieder die Wurzeln dieser kleinen Bäume, die sich um Gestein oder in den Fels krallen.

Mittendrin finden sich zwei losgerissene Reusen für den Hummerfang,

aber auch anderes Strandgut.

Die Reste des letzten Krieges ragen aus dem Sand heraus. Teils kenne ich sie schon gut, die zusammengebackenen Mauerreste, Keramikteile oder manchmal auch Fließenscherben.

Die Saison geht langsam zu Ende. Der Spaßhafen an der Ostkante der Insel hat sich schon merklich geleert.

Der Anlager an der Lesehalle – dort ’springen‘ die Helgoländer Jugendlichen im Sommer – ist verwaist.

Salz und Wetter haben der Oberfläche die Form einer Landschaft gegeben.

Noch sind die Bäume hier grün und belaubt. Noch istTrump nicht wieder gewählt worden – und der Felsen wartet auf den Besuch der letzten Touristen der Saison – den Vogelkundlern.

Para el fin del mundo